Vermeide Transparenz ohne Kontext!

leadership Aug 28, 2022
 

Scrum ist ja bekanntlich eine empirische Vorgehensweise. Sehr simpel ausgedrückt probierst du etwas aus, schaust, ob es funktioniert hat, und machst dann mehr davon oder etwas anderes, je nach Ergebnis der Prüfung. Damit diese empirische Vorgehensweise funktioniert, braucht es Transparenz. Wann immer du mit agilen Coaches, Scrum Mastern und anderen Agilisten sprichst, werden sie dir die Wichtigkeit von Transparenz bestätigen.

Ich sehe das anders. Transparenz ohne Kontext schadet.

In der Regel versuchen wir, Transparenz mit Hilfe von Daten zu erzeugen. Das kann die Anzahl der umgesetzten Story Points sein, das kann die Anzahl der behobenen Fehler sein, das kann der Budgetverbrauch sein, das kann die Anzahl der Downloads sein, der Umsatz, die Churn-Rate… was auch immer. Du kannst fast alles messen und die Ergebnisse transparent darstellen. Und dann? Jeder, ja wirklich jeder interpretiert diese Daten. Und zwar auf seine Art und Weise. Mit seinem Blickwinkel. Mit seinen Erfahrungen. Mit seinen Prioritäten. Das führt zu Ergebnissen, die zumindest viel Kommunikationsbedarf nach sich ziehen. Lass mich das an ein paar Beispielen erläutern.

  • Fakt: „Im letzten Sprint haben wir 17 Story Points umgesetzt.“
  • Interpretation 1: Geil, so viel. Die anderen Teams setzen nur 10 Story Points um.
  • Interpretation 2: Was ist denn da passiert, das ist doch total wenig? Die letzten Sprints waren es doch immer um die 25?!
  • Jetzt kommt der Kontext hinzu: „Durchschnittlich setzen wir 24 Story Point um. Unser Team besteht aus 7 Entwicklern. Einer der Entwickler war im letzten Sprint im Urlaub“.
  • Aha - nun sieht die Interpretation vielleicht so aus: „17 Story Points sind etwas weniger, als wir erwartet und uns vorgenommen haben, aber dennoch in Ordnung“.

Ein anderes Beispiel:

  • Fakt: „Im letzten Sprint haben wir 3 neue Fehler gefunden.“
  • Interpretation 1: „Geil, unsere Software funktioniert einwandfrei!“
  • Interpretation 2: „Hä? Habt ihr denn gar nicht getestet?“
  • Mit etwas Salz in der Suppe oder auch Kontext: „Am 2. Tag des Sprints ist die Testumgebung wegen eines technischen Problems ausgefallen und weiterhin nicht nutzbar“.
  • Und die neue Interpretation: „Über Fehler in der Software können wir keine valide Aussage treffen. Aber es ist merkwürdig, dass unsere Testumgebung abraucht und tagelang nicht wiederhergestellt werden kann.“

Ich denke, du kannst jetzt nachvollziehen, worauf ich hinaus möchte. Gerade als Product Owner sind wir ständig in Situationen, in denen wir abwägen müssen, ob uns Transparenz hilft oder schadet. Jemand möchte Zugriff auf unser Backlog. Jemand möchte Zugriff auf unsere Dashboards zur Codequalität. Jemand möchte die nicht-selbsterklärenden-Folien des letzten Sprint Reviews. Jemand möchte die Umsatzzahlen des letzten Monats. Ich unterstelle all diesen Personen ein berechtigtes Interesse, aber ohne Kontext könnten diese Personen leicht die falschen oder zumindest andere Schlüsse ziehen.

Das bringt uns noch zu einem spannenden Punkt: Unterschiedliche Interpretationen sind ja auch mit Kontext möglich. Hier kommen dann meist die eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Erwartungen ins Spiel und eine Diskussion kann sehr fruchtbar sein, um die eigene Interpretation kritisch zu hinterfragen. Während du mit einem Umsatzwachstum von monatlich 10% zufrieden bist, kann ein Kollegen vielleicht glaubhaft erläutern, warum das realistische Ziel eher bei 50% liegen sollte. Der Austausch über unterschiedliche Interpretationen kann also sehr wertvoll sein!

Ein etwas anderer Aspekt dieses Themas ist übrigens der Umgang mit Geheimnissen oder vertraulichen Informationen. Gerade als Führungspersönlichkeit hast du Zugang zu vertraulichen Informationen und musst entscheiden, ob und in welcher Weise du sie mit deinem Team teilst. Viele Unternehmen sind hier sehr restriktiv. Aus meiner Sicht liegt das aber in vielen Fällen nicht daran, dass es ein objektives Problem wäre, die Information zu teilen, sondern eher am Unvermögen, den richtigen Kontext zu vermitteln. „Wir konnten Preissteigerungen um 3% durchsetzen.“ Klingt solange gut, bis man erfährt, dass die Kosten um 7% gestiegen sind. „Wir haben im letzten Jahr 30.000 neue Mitarbeiter eingestellt.“ Boah, eine Kleinstadt an neuen Mitarbeitern - großartig! „Leider haben wir im selben Zeitraum 40.000 Abgänge durch Kündigung und Renteneintritt.“ Autsch. Informationen als vertraulich zu deklarieren, ist insofern eine Art Schutzmechanismus. Bevor man einer sehr großen Anzahl von Personen die Daten und den Kontext erklärt und dann auch noch Diskussionen wegen unterschiedlicher Interpretationen führen muss, sagt man halt nichts. Vertraulich. Wenn du als Führungspersönlichkeit an dieser Stelle Dinge anders machen möchtest, dann empfehle ich dir auch hier, nicht einfach nur transparent zu kommunizieren, sondern auch den Kontext und deine eigene Interpretation zu kommunizieren und zu erläutern.

Vielleicht denkst du inzwischen, dass diese ganze Transparenz-Ding echt viel Arbeit ist. Stimmt. Warum sollte Transparenz dann also überhaupt erstrebenswert sein? Transparenz ist eine Voraussetzung für Verbesserung. Alle Personen, die etwas verbessern sollen und wollen, brauchen transparente Informationen. Dein Team will effizienter werden? Dann braucht es Transparenz über die eigene Geschwindigkeit. Ihr wollt effektiver werden? Dann braucht ihr Transparenz über die relevanten KPIs. Lass mich nochmal explizit einen Punkt herausgreifen: Transparenz ist eine Voraussetzung für Verbesserung. Verbesserung ist hier das Schlüsselwort. Wenn du nicht besser werden willst, brauchst du keine Transparenz. Wenn du gegenüber deinen Chefs und Kollegen las der Obermacker dastehen willst, brauchst du keine Transparenz. Wenn du alles besser weißt als deine Kollegen, brauchen deine Kollegen keine Transparenz. Transparenz und Verbesserung gehen Hand in Hand.

Was solltest du also tun? Erstens solltest du dir darüber bewusst sein, dass Transparenz nicht per se gut ist und einen Mehrwert bringt. Zweitens solltest du Transparenz ohne Kontext vermeiden, wie es so schön in der Überschrift steht. Typischer Fehler: Präsentationen, bei denen du den Kontext im Meeting mündlich erläutert hast, kommentarlos zu verschicken. Drittens empfehle ich im Regelfall, auch deine Interpretation der Informationen explizit zu kommunizieren, gerne auch mit einer Herleitung.

Transparenz ist wichtig, wenn ihr euch als Team verbessern wollt. Nutzt diese Chance, denn das Leben ist zu kurz, um in beschissenen Projekten zu arbeiten!

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